The Missile
Miia Tervo, Finnland, 2024o
1984 im finnischen Lappland. Die alleinerziehende Mutter Nina demoliert aus Versehen das Panoramafenster der „Lappland News“. Der Chef des harmonieliebenden Käseblättchens lässt sich von ihr überreden, den Schaden mit selbstgeschriebenen Artikeln wieder auszugleichen – heitere Themen vorausgesetzt! Nina aber glaubt, an einer grossen Story dran zu sein. Hat wirklich niemand ausser ihr den ohrenbetäubenden Knall gehört? Nina verwickelt sich in eine absurde Investigativ-Recherche, auf der die Wahrheit immer nur eine Raketenlänge entfernt ist.
Im hohen Norden Europas gibt es einen Existenzialismus, der nicht in der Philosophie, sondern in den Lebensumständen gründet. Der Blick in endlose Wälder und Schneefelder offenbart die relative Bedeutungslosigkeit des Menschen, in der Kälte bleibt wenig mehr als stoisches Ausharren mit Humor und Alkohol, dafür auch tröstliches Miteinander und viel Freiheit zur Selbstbestimmung. Diesen Weg der Selbst- und Sinnfindung geht auch die Heldin der Tragikomödie The Missile, des zweiten Films der 1980 geborenen Lappländerin Mila Tervo. In der ersten Szene knallt der frisch gefällte Weihnachtsbaum der alleinerziehenden Mutter in das Schaufenster des Lokalblatts, wo sich die Reumütige zur Schadensbegleichung als Reporterin andient – und wenig später die Chance zu einem journalistischen Coup wittert, als ein verirrter sowjetrussischer Marschflugkörper irgendwo mit einem Knall einschlägt. Wir schreiben das Jahr 1984: Die finnische Militärführung windet sich wie ein Wurm um die Frage, ob man beim mächtigen Nachbarn reklamieren soll, ebenso Tervos pummelige Heldin mit dem schönen Lächeln und dem traurigen Blick, als ihr gewalttätiger Exmann wieder bei ihr anklopft. So viel zur Aktualität und zur vordergründigen Pointe des Films, wonach es im Grossen wie im Kleinen klare Grenzsetzungen braucht, wenn man die Identität nicht verlieren will. Die Schönheit von Tervos grundsympathischer, leicht holprig erzählter Fabel liegt anderswo: etwa im obigen Bild, das die selbstbewusstere Schwester der Heldin als lebenslustige Braut zeigt. Oder im Tohuwabohu der anschliessenden Hochzeitsfeier, wo zweitklassige Discohits zu drittklassigen Anzüglichkeiten animieren, über die sich niemand geniert. Sodann im feinen Slapstickmoment, als unsere Heldin mit ihrem Liebhaber im Spalt zwischen zwei Betten versinkt, nicht zu vergessen das anrührende Bild ihrer Tochter, die im Daunenmantel der Mutter durch das menschenleere nächtliche Dorf eilt: Antihelden im Nirgendwo, heldenhaft in ihrem Bemühen, nordischer Existenzialismus in Reinkultur.
Andreas FurlerGalerieo








